Die Geschichte und Entwicklung des Adventskalenders: Von den Anfängen im 19. Jahrhundert bis zur modernen Vielfalt

Der Adventskalender ist heute ein fester Bestandteil der Vorweihnachtszeit, ein tägliches Ritual, das die Vorfreude auf Heiligabend steigert und die Tage bis zum Fest greifbar macht. Doch hinter den 24 Türchen verbirgt sich eine über 150-jährige Kulturgeschichte, die von einfachen Kreidestrichen über kunstvolle Papierkreationen bis hin zu den heutigen, vielfältig gefüllten Kalendern reicht. Diese Reise spiegelt nicht nur den Wandel des Weihnachtsfestes selbst wider, sondern auch tiefgreifende gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklungen.

Kapitel 1: Die Ursprünge im 19. Jahrhundert – Die Zeit sichtbar machen

Die Geschichte des Adventskalenders beginnt nicht mit einem Produkt, sondern mit einer einfachen, wiederkehrenden Kinderfrage: „Wann ist endlich Weihnachten?“.[1] Um diese abstrakte Zeitspanne für Kinder verständlich zu machen, entwickelten Familien im 19. Jahrhundert, vor allem im protestantischen Raum, verschiedene kreative Zählhilfen.[2]

Diese frühen Formen waren vielfältig und oft hausgemacht:

  • Der Kreidestrich-Kalender: Eine der einfachsten Methoden war das Malen von 24 Kreidestrichen an eine Tür oder Wand. Jeden Tag durften die Kinder einen Strich wegwischen und sahen so, wie die Anzahl der verbleibenden Tage schwand.[3, 4, 5]
  • Die Adventskerze: Besonders im skandinavischen Raum verbreitet war eine Kerze mit 24 Markierungen. Jeden Abend wurde sie bis zum nächsten Strich heruntergebrannt und diente so als täglicher Zeitmesser.[1, 4]
  • Religiöse Bilder und Strohhalme: In manchen Familien wurde täglich ein neues religiöses Bild an die Wand gehängt.[3, 2, 4] In katholischen Haushalten war es zudem Brauch, jeden Tag einen Strohhalm in eine leere Krippe zu legen, damit das Jesuskind an Heiligabend weich gebettet sei.[3, 6]

 

Eine institutionalisierte Form dieser Zählhilfen schuf der Theologe Johann Hinrich Wichern im Jahr 1838. Um den Kindern in dem von ihm gegründeten Knabenrettungshaus „Rauhes Haus“ bei Hamburg die Wartezeit zu verdeutlichen, baute er einen großen Holzkranz. Dieser trug vier große weiße Kerzen für die Adventssonntage und zwanzig kleine rote Kerzen für die Werktage dazwischen. Jeden Tag wurde eine weitere Kerze angezündet, wodurch der „Wichernkranz“ zum direkten Vorläufer des heutigen Adventskranzes wurde.[7, 4, 8, 9]

Kapitel 2: Die Erfindung des gedruckten Kalenders (frühes 20. Jahrhundert)

Der Übergang von selbstgebastelten Zählhilfen zu einem kommerziell hergestellten Produkt markiert einen Wendepunkt in der Geschichte des Adventskalenders. Die genaue Datierung des ersten gedruckten Exemplars ist unter Historikern umstritten, was die dynamische Entwicklung zu Beginn des 20. Jahrhunderts unterstreicht.

Die Debatte um den ersten gedruckten Kalender

Die Quellenlage zur ersten kommerziellen Veröffentlichung ist komplex und nennt mehrere Daten und Urheber:

  • 1902: Einige Quellen verweisen auf eine „Weihnachtsuhr für Kinder“, die 1902 von der evangelischen Buchhandlung Friedrich Trümpler in Hamburg veröffentlicht wurde. Diese Uhr hatte Ziffern von 13 bis 24 und gilt als eines der frühesten gedruckten Exemplare.[7, 10, 1, 11, 8]
  • 1903: Der Münchner Verleger Gerhard Lang (1881–1974) wird oft als der eigentliche Erfinder des modernen Adventskalenders bezeichnet. Laut dem Verlag art+form stellte er 1903 seinen ersten Kalender her.[12, 13, 14]
  • 1904: Im Jahr 1904 wurde dem „Neuen Tagblatt Stuttgart“ ein Weihnachtskalender als Beilage beigefügt, der ebenfalls von Gerhard Lang in Zusammenarbeit mit dem Zeichner Richard Ernst Kepler stammte.[2, 15, 14]
  • 1908: Viele Historiker datieren Langs ersten, weithin vertriebenen Kalender auf das Jahr 1908. Dieser Kalender mit dem Titel „Im Lande des Christkinds“ hatte noch keine Türchen, sondern bestand aus zwei Bögen: einem mit 24 nummerierten Feldern und einem zweiten mit 24 Bildern zum Ausschneiden und Aufkleben.[2, 6, 15, 16, 17]

Die Inspiration für Langs Idee stammte aus seiner eigenen Kindheit: Seine Mutter hatte ihm das Warten auf Weihnachten verkürzt, indem sie 24 kleine Gebäckstücke (sogenannte „Wibele“) auf einen Karton nähte, von denen er täglich eines essen durfte.[4, 6, 13, 5, 18, 19]

Gebäckstücke "Wibele"

Die Einführung der Türchen

Gerhard Lang entwickelte seine Idee stetig weiter. Um 1920 brachte sein Verlag die ersten Adventskalender mit den heute bekannten aufklappbaren Türchen auf den Markt, hinter denen sich kleine Bilder verbargen.[12, 3, 2, 13, 17] Diese Neuerung war ein großer Erfolg und trug maßgeblich zur Popularisierung des Adventskalenders in ganz Deutschland bei. Lang experimentierte sogar mit frühen Formen gefüllter Kalender und soll bereits 1926 einen Kalender mit Schokoladenstücken hergestellt haben.[10, 11, 20]

Gerhard Lang Adventskalender 1920

Kapitel 3: Zwischenkriegszeit und Nationalsozialismus

In den 1920er und 1930er Jahren erlebte der Adventskalender eine Blütezeit. Zahlreiche Verlage brachten kunstvoll gestaltete Kalender auf den Markt, oft mit romantischen Stadtansichten oder christlichen Motiven.[6]

Diese Entwicklung fand jedoch mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten ein jähes Ende. Das Regime versuchte, christliche Bräuche aus dem öffentlichen Leben zu verdrängen und durch eigene Rituale zu ersetzen. Der Adventskalender wurde ideologisch vereinnahmt: Christliche Symbole wichen germanischen Motiven, und der Kalender wurde in „Vorweihnachten“ umbenannt.[1] Mit Kriegsbeginn führte die Papierknappheit zu einem Produktionsverbot für Bildkalender.[2, 1] Gerhard Lang musste seinen Verlag 1940 schließen, womit die erste Ära des Adventskalenders endete.[12, 2, 13]

Kapitel 4: Die Nachkriegszeit und die Kommerzialisierung (nach 1945)

Unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg erlebte der Adventskalender eine bemerkenswerte Wiedergeburt. Die entscheidende Figur dieser Zeit war der Stuttgarter Verleger Richard Sellmer. Er erhielt 1945 von den US-Behörden eine Drucklizenz und produzierte 1946 den ersten Nachkriegs-Adventskalender mit dem Titel „Die kleine Stadt“.[2, 21, 22, 23]

Sellmers Kalender mit ihren nostalgischen und friedlichen Motiven trafen den Nerv der Zeit. Amerikanische Soldaten, die in Deutschland stationiert waren, schickten die Kalender in ihre Heimat und machten sie so auch in den USA bekannt.[1, 24] Der Sellmer-Verlag etablierte sich als führender Hersteller und exportierte bald in die ganze Welt.[1, 21]

Der endgültige Durchbruch zum Massenprodukt gelang dem Adventskalender im Jahr 1958 mit der Einführung des ersten weit verbreiteten, mit Schokolade gefüllten Kalenders.[1, 25, 26, 15] Diese Neuerung verband das tägliche Ritual des Türchenöffnens mit einer süßen Belohnung und machte den Kalender zu einem festen Bestandteil der Konsumkultur rund um Weihnachten.[27, 28, 29]

Kapitel 5: Die Moderne – Vielfalt ohne Grenzen

Seit den späten 20. Jahrhundert hat sich der Adventskalender von einem reinen Kinderartikel zu einem Produkt für alle Altersgruppen und Interessen entwickelt. Die thematische Vielfalt ist heute nahezu unbegrenzt:

  • Beauty-Adventskalender: Gefüllt mit Kosmetik, Parfüm und Pflegeprodukten von Marken wie Rituals oder Douglas.[30, 31, 32]
  • Food- & Genuss-Adventskalender: Mit Tee, Gewürzen, Müsli, Bier oder sogar Gin.[33, 34, 35]
  • Spielzeug-Adventskalender: Von Marken wie LEGO oder Playmobil, bei denen über 24 Tage eine ganze Spielwelt entsteht.[36, 37]
  • DIY-Adventskalender: Kalender zum Selbstbefüllen bleiben populär und ermöglichen eine persönliche und individuelle Gestaltung.[38]
  • Digitale Adventskalender: In Form von Apps, Online-Gewinnspielen oder täglichen E-Mails haben sie die Tradition ins digitale Zeitalter übertragen.[1]

Trotz dieser enormen Diversifizierung bleibt der Kern des Brauchs unverändert: der Adventskalender dient als Zeitmesser, der die Tage bis Heiligabend zählt und die Vorfreude auf das Fest auf eine besondere Weise zelebriert.


Fazit

Von einer einfachen Zählhilfe im 19. Jahrhundert über die geniale Erfindung des gedruckten Kalenders durch Pioniere wie Gerhard Lang bis hin zur globalen Erfolgsgeschichte nach 1945 – der Adventskalender hat eine faszinierende Entwicklung durchlaufen. Er hat Kriege und politische Systeme überdauert und sich immer wieder neu erfunden. Heute steht er wie kaum ein anderes Produkt für die Magie der Vorweihnachtszeit und beweist, dass die Freude am täglichen kleinen Ritual des Wartens und Entdeckens zeitlos ist.

Referenzen

  • Gajek, Esther: Adventskalender – von den Anfängen bis zur Gegenwart, Süddeutscher Verlag. [1]
  • Mergenthaler, Markus: Adventskalender im Wandel der Zeit, J.H.Röll Verlag, Dettelbach 2007. [1]
  • Peschel, Tina: Adventskalender Geschichte und Geschichten aus 100 Jahren, Verlag der Kunst, 2009. [1]
  • Deutsches Weihnachtsmuseum, Rothenburg ob der Tauber [7, 11, 39, 40, 41]
  • Museum Europäischer Kulturen, Staatliche Museen zu Berlin [42, 4, 14, 24, 23, 43, 44, 45, 46, 47]
  • Richard Sellmer Verlag, Stuttgart [12, 48, 2, 49, 50, 21, 22, 51, 52, 23, 53, 54, 55, 56]